Album Bundesarchiv Koblenz, B 323/311 

 

 

Beschlagnahmeaktionen in Paris. Transport- und Lageraufnahmen (1940–44), Album mit 85 Schwarz-Weiß-Fotografien, Bundesarchiv Koblenz, B 323/311 

 

Sarah Gensburger, Witnessing the Robbing of the Jews. A Photographic Album, Paris, 1940–1944 (Bloomington: Indiana University Press, 2015)

 

Louvre Museum – Nationales Museum für Moderne Kunst (Palais de Toyko) – Villa der Familie Cahen d’Anvers – Kaufhaus Lévitan (2007), Farbfotografien von Olivier Amsellem, in Zusammenarbeit mit Sarah Gensburger und Michèle Cohen

Die Fotografien wurden erstmals 2007 in der Ausstellung Retour sur les lieux. La Spoliation des Juifs à Paris gezeigt. Die Ausstellung wurde von BETC ausgerichtet, deren Büros sich im ehemaligen Internierungslager Lévitan, rue du Faubourg Saint-Martin 85–87, im 10. Pariser Arrondissement befanden. 

 

Der Eiffelturm vom Trocadéro aus gesehen (2017), Farbfotografie von Kevin Labourdette 

 

Text von Sarah Gensburger, Le Centre national de la recherche scientifique, Paris

Übersetzung aus dem Englischen von Ben Mohai

Lektorat von Eva Wilson 

 

Mit freundlicher Unterstützung von Indiana University Press, Bloomington, IN 

 

 

In die Vergangenheit blicken, Geschichte bezeugen: Das Koblenz-Album

 

Paris, das Zentrum der Kunstwelt vor dem Krieg, befeuerte während der deutschen Besatzung Frankreichs die Gier der Nazis. In Paris begann die Plünderung mit der Ankunft der deutschen Truppen in der Hauptstadt am 14. Juni 1940. Zunächst wurden Kunstwerke im Besitz jüdischer Sammler_innen beschlagnahmt. Viel weniger bekannt sind die ab 1942 erfolgenden systematischen Plünderungen von Pariser Wohnungen, die von ihren jüdischen Bewohner_innen „verlassen“ worden waren. Nachdem die Entscheidung zur Ausführung der „Endlösung“ getroffen worden war, wurde die sogenannte „Möbel-Aktion“ ins Leben gerufen. Am 25. März 1942 wurde dafür eine Abteilung in Paris eingerichtet: die „Dienststelle Westen“. Die Tatsache, dass nur zwei Tage später die ersten Deportationszüge mit 1.112 Jüdinnen und Juden Frankreich verließen, macht die enge Verflechtung der Ausweitung der Plünderungen und der Umsetzung der Massenvernichtung deutlich. Bis August 1944 wurden bis zu 38.000 Pariser Wohnungen ausgeräumt. Vor dem Abtransport nach Deutschland wurden Mobiliar, Besteck, Spielzeug und andere Alltagsgegenstände in mehreren Lagern aufbewahrt: Klaviere im Musée National d’Art Moderne (heute Palais de Tokyo); Bücher und Partituren in der rue de Richelieu; Möbelstücke im quai de la Gare 43 (Lagerhaus Austerlitz); andere Gegenstände und Kleidungsstücke in der rue du Faubourg-Saint-Martin 85–97 (Warenhaus Lévitan); und wertvolle Waren, wie Porzellan oder Spitze, in der rue Bassano 2.

 

Jüdische Arbeitskräfte verpackten diese Gegenstände in Kisten, und die Depots Austerlitz, Lévitan und rue Bassano wurden so zu Internierungslagern im Zentrum von Paris. Zwischen Juli 1943 und August 1944 wurden in diesen Lagern mindestens 795 Personen festgehalten. Etwa zwanzig Prozent von ihnen wurden später deportiert, vorwiegend nach Auschwitz. Im August 1944 wurden die verbliebenen Gefangenen befreit. Lévitan, Austerlitz und Bassano waren die gängigen Namen für diese Außenlager des Sammel- und Durchgangslagers Drancy. 2003 schrieben der Historiker Jean-Marc Dreyfus und ich ihre Geschichte (Des camps dans Paris, Paris: Fayard 2003). Die Archive der „Dienststelle Westen“ wurden am Ende des Krieges zerstört. Somit mussten wir bei unserer Recherche auf die wenigen anderen offiziellen Archive zurückgreifen und uns vor allem auf persönliche Briefe, Tagebücher und mündliche Aussagen von ehemaligen Inhaftierten stützen.

 

Einige Jahre später erfuhr ich von einem Fotoalbum, das im Bundesarchiv in Koblenz unter der Signatur B 323/311 zugänglich ist.1 Es beinhaltet 85 Bilder, vor allem von den drei erwähnten Lagern, ohne Bildunterschriften. Die einzige Ausnahme bildet ein Eintrag auf der ersten Seite: Dieser weist darauf hin, dass das Album 1948 vom Munich Central Collecting Point zusammengestellt wurde. Als ich diese Bilder zum ersten Mal sah, schaute ich instinktiv in den Hintergrund, hinter die Objekte, um dort eventuell Inhaftierte, die ich entweder aus anderen Aufnahmen erkannte oder mit denen ich in einigen Fällen persönlich gesprochen hatte, zu entdecken. Anfangs hatte ich den starken Eindruck, dass viele der 85 Bilder mit der ausdrücklichen Absicht aufgenommen worden waren, Aussagen aus den Interviews oder aus den persönlichen, historischen Briefen, die mir zugänglich gemacht worden waren, zu illustrieren. Die Fotos schienen ein Ausmaß an Effizienz und Klarheit aufzuweisen, das den Textberichten oft fehlte. Ich beschloss, meine eigenen Schritte zurückzuverfolgen oder vielmehr meine Reise neu zu beginnen, jedoch in die entgegengesetzte Richtung, bis ich ihren Anfang erreichte. Ich war daran interessiert zu verstehen, was genau mir diese Bilder darüber erzählten, was der historische Bericht über die Vergangenheit nicht vermitteln konnte. Ich hatte ja sozusagen diese Geschichte bereits geschrieben, bevor ich die Bilder fand, die sie illustrierten. Diesen Unterschied anzuerkennen hieß, die Resonanz zu berücksichtigen, die diese Fotos notwendigerweise für heutige Betrachter_innen haben, sowie auch die vielen verschiedenen Blickrichtungen, aus denen sich die „Realität“ konstituiert, die unseren Augen vorgelegt wird. Die zutiefst widersprüchliche Natur des Holocaust – eine Erfahrung, die als unmöglich wiederzugeben beschrieben wird, jedoch gleichzeitig durch die vielen erhalten gebliebenen Fotografien sichtbar gemacht wird – bringt die Frage nach der zeitgenössischen Verwendung von Bildern zur Schaffung eines Narrativs der Vergangenheit in einen besonders klaren Fokus.

 

1 Ich danke Floriane Azoulay und Jean-Marc Dreyfus, die mich auf das Album aufmerksam machten.